Dienstag, 20. April 2010

Ernst Wünsch, das Plusquamperfekt & das Futurum exactum

Ernst Wünsch schreibt einen neuen Roman. Er wird „Finstern“ heißen, eine Verballhornung von „finis terrae“, Ende der Welt, ein Ort, von dem seit Menschengedenken eine Fähre ans andere Ufer übergesetzt hat. Der Fluss heißt „Aach“. Man ist versucht, diesen Namen von „Acheron“ abzuleiten, einen der antiken Unterweltflüsse. Das andere Ufer, das Jenseits, möglicherweise das Totenreich, der Orkus. Der Fährmann heißt allerdings nicht Hades, sondern Adrian Schall, & hat einen Hund, der Skipper heißt & nicht Zerberos. Dieser Schall ist aber nicht die Hauptperson dieses Romans. Die heißt nämlich Leo Kmetko & ist das Alter Ego des Autors. Handelt es sich bei „Finstern“ demnach um einen sogenannten autobiografischen Roman? Diese Frage stellte ich Ernst Wünsch höchst persönlich, als ich ihn mit meinem Hund beim Gassigehen mit seinem Hund begleitete. Mein Hund hört weder auf die Namen Zerberos, Skipper oder Castor, sondern schlicht & einfach auf Snoopy. Bzw. hört er auf den auch nur, wenn er Lust dazu hat. Wünschs Hund hingegen heißt weder Zerberos, Skipper noch Snoopy, sondern Castor & ist im Großen & Ganzen ebenso unfolgsam wie mein Snoopy. Sie sind eben beide Terriers. „Autobiografischer Roman?! Quatsch, Commodore!“, brummte Wünsch, während wir uns durch den Schlamm des Hungerbergweingartens hangaufwärts quälten & unsere beiden Terrier um die Wette an die Rebstöcke pinkelten, dass es eine wahre Freude war. „Ich erfinde einfach eine Figur, die in der ebenfalls von mir erfundenen Handlung eine Rolle spielt. Da sowohl Handlung als auch Protagonist möglichst authentisch wirken sollen, ist es von Vorteil, soziales Umfeld, charakterliche, physische & psychische Merkmale von Menschen, die man einigermaßen gut zu kennen glaubt, in diese Kreatur hineinzuverwursten. Da man sich selbst am besten kennt, ist man naturgemäß selbst immer erkennbar in dieser Person, was aber nicht heißt, dass man mit ihr identisch ist. Sie sind übrigens ebenfalls Bestandteils dieses Bräts, werter Commodore“, sagte Wünsch & lüpfte den Maschendrahtzaun, der am Hungerbergkamm den frei zugänglichen Weingarten von einem Grinzinger Privatgrundstück trennt, in dem sich ein Schwimmbiotop mit Wildenten, Schilf & Seerosen befindet. Castor & Snoopy schlüpften durch diese Öffnung, sprangen in den Teich & vertrieben die Enten. „Brät?!“, fragte ich verwirrt. „Von althochdeutsch brāto“, antwortete Wünsch oberlehrerhaft. „Was soviel wie schieres Fleisch & Weichteile bedeutet. Woraus zum Beispiel Leberkäs gemacht wird. Ein Mett halt.“
Nachdem die Hunde klatschnass wieder unter dem Zaun zurück in den Weingarten gekommen waren, wagte ich eine weitere, wie mir schien, literaturwissenschaftlich relevante Frage.
„Wenn wir schon dabei sind - wird die Geschichte in einer Wurscht erzählt oder gibt es eine Rahmenhandlung & die für Sie so signifikanten Abschweifungen in Episoden & Fußnoten?“
Wünsch blickte mich verständnislos an, bückte sich & streichelte mitleidig meinen Snoopy. „Fragt der eigentlich immer so beschränkt, Du armes Tier!“
Ich konnte Castor, der sich eifersüchtig auf Snoopy stürzen wollte, gerade noch am Halsband zurückhalten. Wünsch richtete sich wieder auf, blickte seufzend über die zu unseren Füßen liegende Döblinger Vorstadtsilhouette & dozierte:
„Finstern wird in drei Auszeiten erzählt. In jeder Auszeit erinnert sich mein Held Leo Kmetko an die Lebensabschnitte, die jeweils so eine Auszeit erforderlich gemacht haben. Man kann sagen, es gibt eigentlich nur mehr Plusquamperfekt & Futurum exactum“, sagte er & betrachtete mich kritisch. „Vorvergangenheit & Vorzukunft, ich weiß, ich weiß“, beeilte ich mich, ihm mein vollstes Verständnis kundzutun. „Die Gegenwart ernährt sich von der Zukunft & scheidet die Mitvergangenheit aus. Die ist zugleich die Erzählzeit. Ein reines Ausscheidungsprodukt sozusagen. In der Gegenwart zu erzählen wäre unliterarisch. Oder halten Sie Gebrauchs- & Regieanweisungen für Literatur, Commodore?“
Ich sagte sicherheitshalber gar nichts mehr & auch Wünsch schwieg den ganzen Heimweg über in Gedanken versunken. Ich nehme an, auch er versuchte zu verstehen, was er mir am Hungerberg alles verbraten hatte.
Zum Abschied fragte ich ihn rein rethorisch: "In den großen Romanen der Literaturgeschichte kommen auch immer Frauen vor..."
"Auch in Moby Dick?", unterbrach mich Wünsch.
"Wie ist das in Finstern? Was spielen die Frauen da für eine Rolle? Und wie heißen sie?", ließ ich mich nicht weiter irritieren.
"Eine von ihnen ist Kapitänin & heißt Klara Fall."


Wien-Oberdöbling, am 20. April 2010, an dem übrigens Hildegund & Odetta ihren Namenstag haben

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